Blindflug

„Wie steige ich am besten ein?“
Stirnrunzelnd steht Marah Lindbergh vor der kleinen Maschine auf dem Vorfeld des Augsburger Flughafens. Ihre Hände gleiten über die seitliche Naht eines schmalen Rocks. Der gibt glänzende lange Beine frei in hohen eleganten Schuhen. Ein blonder Mann mit dunkler Brille besteigt den rechten Flügel, schliesst die Kabine auf und setzt sich hinter das Steuerhorn.
„Treten Sie bitte nur auf die markierten Stellen, sonst beschädigen Sie die Tragflächen“, sagt Franz. Dann beschäftigt er sich mit Fliegerutensilien. Auf dem Schoss breitet er eine Karte aus.
„Phu, geschafft“ lacht sie „so sportlich habe ich mir das nicht vorgestellt.“
„Sport-Fliegerei“ sagt er zur Karte.
Das Funkgerät knackt, eine Stimme aus dem Äther spricht Unverständliches. Dann herrscht längere Zeit Ruhe.
„Eng wie eine Sardinenbüchse“ sagt sie schliesslich in das Schweigen.
Die Luft in dem kleinen Cockpit der einmotorigen Piper Archer wird schnell stickig.
Er reicht ihr eine Papiertüte.
„Für Notfälle.“
„Mir wird bestimmt nicht schlecht“ gibt sie deutlich zu verstehen.
„Das haben schon manche gesagt“ brummt Franz.
Entschlossen streicht Marah eine freche Strähne nach hinten und fixiert ihre langen Haare mit dem grüngrauen Headset Marke Daved und Clark. Anschliessend neigt sie leicht ihren Kopf zur Seite und lächelt den Piloten an.
„Steht mir der Haarreif?“
„Augsburg Tower, hotel bravo papa lima romeo“ sagt er.
„Auf von den Fuggern zu den Bären“ spricht die Dame mit deutlichen Worten in das Minimikrophon vor ihrem gemalten Mund.
„Das Ding reizt zum Reinbeissen“ stellt sie nach kurzer Pause fest.
„Lieber nicht“ meint der Blonde.
Er wirft den Motor an. Der Propeller kommt in Fahrt. Langsam rollt die Maschine zur Startbahn. Gnadenlose Sonnenstrahlen rösten das Flugzeug. Die zwei Menschen im Inneren schmoren. Marahs Wangen glühen zwischen den schlecht sitzenden Kopfhörern. Auf ihrer Stirn brechen kleine Schweissperlen aus dem Make-up.
Der Pilot murmelt englische Worte.
„Sind das Beschwörungsformeln“ fragt sie nach.
Keine Antwort.
Dann geht es los. Er gibt Vollgas. Die Piper löst sich vom Asphalt, steigt auf, steigt und steigt und steigt hinauf ins strahlende Blau. Schnell verwandeln sich die zurückgelassenen Menschen in Ameisen, ihre Autos werden kleine Spielzeuge. Meterhohe Häuser schrumpfen zu Streichholzschachteln. Äcker und Wälder zeigen ihr buntes Patchworkmuster. Bald wechselt die Maschine in die Horizontale. Der Höhenmesser zeigt sechstausend und fünfhundert Fuss. Es geht gen Westen.
„So, jetzt übernimmt der Autopilot“ sagt der Blonde.
Seit dem Start atmet Marah tief. Sie löst die Finger von der Papiertüte und blickt mit grossen Augen hinunter auf die Welt zu ihren Füssen.
„Das ist schön hier. Wie ein Champagnerrausch.“
„Bleibt das so spannend, wenn man öfter fliegt“ will sie von ihm wissen.
Franz schiebt die Sonnenbrille hoch. Vorsichtig tasten graugrüne Augen Marah Lindbergh ab. Eine Dame mittleren Alters. Der kräftige Rahmen aus Mahagoni betont ihre zarte Blässe. Darin funkeln goldbraune Katzenaugen a la Kleopatra, begrenzt von sorgfältig gemalten Brauen. Der Mund trägt Blutrot. Ein Gesicht wie Schneewittchen im Hochglanzdruck. Nur die aufgeregte Farbe der Backen verrät pulsierendes Leben. Marahs schmale Finger falten sich um ein weisses Täschchen. Auffallend sind die Nägel mittlerer Länge; sie erscheinen als ein exaktes Zitat der Lippenfarbe.
Mit verschränkten Armen blickt der Pilot aus dem Seitenfenster hinunter auf die Erde.
„Es wird immer spannend bleiben“ sagt er zu sich.
„Von oben gesehen wird die Welt ein Modell ihrer selbst, klein und überschaubar. Flugzeuge faszinieren mich seitdem ich denken kann. Die technische Zuverlässigkeit ist nahezu grenzenlos.“
Seine Passagierin lacht aus vollem Hals.
„Ich dachte immer, ihr Piloten stürzt euch in Flugabenteuer um Aufregendes zu erleben“ meint sie dann.
„Aufregung ist genau das, was ein Pilot am wenigsten braucht.“
Wieder widmet er sich seiner Karte.
„Wir folgen diesem Flüsschen bis zum Bodensee.“
Sie kramt ein kleines rotes Büchlein aus ihrem Täschchen. Mit einem versonnenen Lächeln, als berge sie eine unscheinbare Kostbarkeit, streicht die Dame ein ausgerissenes Papierstück glatt.
Längere Zeit schweigen beide. Nur der Motor dröhnt gleichmässig. Mit 100 Knoten frisst die Maschine Meile um Meile. Sonst ist es ruhig dort oben. Zarte Wolken ziehen vorbei. Dann und wann wird in der Ferne ein Flugzeug sichtbar.
Aus der Vogelperspektive hat das schwäbische Meer seine unmittelbare Weite eingebüsst. Im Südosten halten mächtige schneebedeckte Bergriesen das Urwasser im Zaum. Die kleinen Pünktchen auf der Oberfläche des Binnensees sind Seegelboote, die grösseren Verkehrsschiffe. Das Flugzeug dreht bei Friedrichshafen nach Süden und nimmt Kurs über das Wasser zu den Bergen.
Im Cockpit ist es kühl geworden. Ein Rauschen mischt sich in den Motorenlärm.
„Mein Nacken wird steif, zieht es hier“ will Marah wissen.
Dann wendet sie den Kopf und ächzt leise. Ihre Finger krallen in das weisse Leder auf dem Schoss.
„Hilfe!“
Ein zehn Zentimeter breiter Spalt klafft seitlich. Die Tür ist auf. Nur ein streichholzdünnes zitterndes Riegelchen bewahrt die Frau vor dem jähen Sturz in sechstausend Fuss Tiefe. Marahs Gesicht erstarrt zur Schreckensmaske. Was bleibt ist künstliche Farbe. Das Leben weicht ins Herz.
„Gott hilf“ stammelt sie und lehnt sich zurück so weit als möglich.
„Das macht nichts“ sagt der Blonde und fügt hinzu:
„Es kann schon mal vorkommen, dass die Tür aufgeht.“
Marah keift wie eine angeschossene Hündin.
„Mach sie sofort zu.“
„Ich komme da nicht hin. Sie brauchen nur an dem Griff zu ziehen“ sagt er gedehnt.
„Mach sie sofort zu,“ flüstert sie mit geschlossenen Augen, klammernd an seinem Oberschenkel. „Bitte, bitte mach sie zu!“
Ein Papierschnipsel fliegt durch die Kabine und bleibt hinterm Kreiselkompass hängen.
Der blonde Mann beugt sich über seine Passagierin, der Ellenbogen drückt in ihren Bauch, seine feinen Haare kitzeln im Gesicht. Dann liegt er endgültig auf ihr um mehrmals kräftig am Türgriff zu ziehen. Doch der Spalt geht nicht zu. Marah atmet kurz und heftig. In ihrer Verzweiflung hält sie sich am Männerhemd fest. Er stöhnt entnervt und kämpft sich frei.
„Gib mir die schwarze Liste “ befiehlt er in harschem Ton.
Marah rührt sich nicht.
„So ein Theater nur wegen einer offenen Tür!“
Der Pilot zieht ein dunkles Ringbüchlein aus dem Handschuhfach und pfeffert die Klappe wieder zu.
„Verhalten in Notfällen, offene Türe während des Fluges“ liest er ungestüm.
„Da haben wirs.“
Franz öffnet das Sturmfensterchen auf seiner Seite und beugt sich nochmals nach rechts. Endlich schnappt das Sorgenkind mühelos ein und kann an zwei Stellen verriegelt werden.
„Kein Problem, Sie können die Augen wieder aufmachen, es ist vorbei“ sagt er zu dem schlaffen Etwas an seiner Seite.
Keine Antwort.
„Hm“ fragt er brummend.
Langsam kehrt das Blut zurück in die leblose Hülle Marah Lindbergh. Sie richtet sich auf und massiert ausatmend mit beiden Händen über ihr Gesicht.
„Mein Gott, ich sollte das Fliegen den Vögeln überlassen.“
„Ja.“ sagt er und studiert die Karte.
Nach einiger Zeit bricht er das erschöpfte Schweigen an seiner Seite
„Wir sind ziemlich vom Kurs abgekommen.“
Die Frau starrt vor sich hin. „Wie lange dauert das noch“ ist ihre einzige Frage.
Mittlerweile hat die Piper den Bodensee hinter sich gelassen. Auf den Zürichsee folgt das kleinere Blau des Zuger Sees. Und überall die majestätische Schönheit der Alpen. Die Maschine fliegt Richtung Luzern und dreht nach rechts.
„Bald haben wirs geschafft“ sagt der Pilot.
Plötzlich stört ihn etwas am Instrumentenboard.
„Was ist das?“
Mit spitzen Fingern fasst er das geheimnisvolle Papierchen, es ist ein Zeitungsausschnitt. Wieder sitzt Schneewittchen neben ihm; Marah ist bis in die Haarpracht errötet.
Flieger sucht Flugbegleitung für gemeinsame Höhenflüge in der Schweiz. Chiffre 1920.
Ein sanftes Lächeln. Sein neugieriger Blick verschwindet schnell hinter der schützenden Brille. Das Cockpit erscheint im sanften Licht. Sie fliegen westwärts direkt auf die untergehende Abendsonne zu. Die Alpenkulisse sieht aus wie eine Postkarte.
„Wer kann sich gegen soviel Schönheit wehren“ sagt der Pilot zur Frau an seiner Seite. Drei Riesen, Eiger, Mönch und Jungfrau, sind stumme Zeugen in beleuchteter Versteinerung.
„Nicht schlecht“ sagt Marah und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel einer Puderdose.
„Nicht schlecht, die Schweiz von oben.“ Sie zieht ihre Lippen nach.
„Fast eine Stunde Verspätung, na ja – so ist das nun“ fügt sie noch leise hinzu.
Das Flugzeug setzt zum Sinkflug an. Langsam aber stetig verliert es an Höhe. Da ist schon das Ziel zu sehen: Bern. Bald kann Marah blossen Auges die lange Piste von Bern-Belp erkennen. „Hotel lima romeo, Queranflug“ funkt der Pilot zum Tower. Sie erhalten Landeerlaubnis. Auswendig geht Franz mit halblauter Stimme auf englisch seine Checklisten durch. Die Luft drückt sich zusammen. Der Pilot steuert seine kleine Maschine durch die Turbulenzen verschiedener Luftschichten, nimmt Gas zurück und stimmt sich mit dem Lotsen ab. Dann überfliegt er in sicherer Höhe Stadt und Aarelauf.
Krachendes Ruckeln.
Ein leiser Aufschrei der Passagierin. Die Klappen an den Hinterkanten der Tragflächen bremsen das Flugzeug. Sekundenlang schwebt die dünnhäutige Libelle über dem Asphalt. Dann setzen die Räder auf. Die Bremse greift und es ist vorbei.
Sie rollen aufs Vorfeld; der Motor verhungert klackernd.
Franz wuchtet das Gepäck aus dem hinteren Teil der Piper.
„Wir sind da. Wie gesagt 90 Euro und meine Kosten sind gedeckt.“
„Bitte nehmen Sie, ich hab es eilig, wie gesagt, dringender Termin. Auf Wiedersehen.“
Ohne ihren Flugpartner eines weiteren Blickes zu würdigen, startet Marah mit Koffer, Richtung Restaurant.
Kopfschüttelnd steckt Franz den 100 Euroschein in seine Hemdtasche. Dann wendet er sich seinem Flugzeug zu. Sanft steichelt er über das heissgeflogene Wahrzeichen seiner Piper Archer.
„Du gefällst mir immer noch am besten, Goldnäschen.“
Gutgelaunt strahlt die Propellerspitze unter ihren zahlreichen Fliegenpünktchen.
Goldnäschens Pilot pfeift leise und geht ans Werk. Es gibt noch viel zu tun.